Digitalisierung ist der Schlüssel zur Transformation
Das Bauen wird sich in den nächsten Jahrzehnten erheblich verändern müssen, angepasst an die Erfordernisse, die Klimawandel, schwindende Ressourcen und die Energiewende mit sich bringen. Die glasstec sprach über die großen Trends im Fassadenbau mit Dipl.-Ing. Jochen Hölscher, Geschäftsführer des mittelständischen Fassadenbau-Unternehmens Hölscher, das seit vielen Jahrzehnten auch die Entwicklung von Sonderlösungen nicht scheut. Die Stichworte sind: Nachhaltigkeit, Standardisierung für serielle und modulare Konzepte, BIM und Materialdatenbanken für effiziente 2D- und 3D-Planungen, 3D-Druck von Komponenten, Smart Building mit adaptiven Fassaden und Konzepte für Gebäude als Materialbanken. Der gemeinsame Schlüssel zur erfolgreichen Umsetzung ist die Digitalisierung.
Der Blick ins Pflichtenheft aller baubeteiligten Branchen spricht hinsichtlich des Klimawandels, endlicher Ressourcen und einer veränderten geopolitischen Lage eine klare Sprache: Die Welt befindet sich in einem wichtigen Technologie- und Strukturwandel. Dieser macht auch vor dem Fassadenbau nicht halt. Inmitten dieser Entwicklungen wird augenscheinlich, dass die Digitalisierung ein wichtiger Schlüssel zu fast allen wichtigen Zukunftsthemen ist. Jochen Hölscher, Geschäftsführer des Fassadenbauunternehmens Hölscher, ist überzeugt: „Mit der Digitalisierung steht und fällt der Erfolg, zum Beispiel für eine erfolgreiche Anwendung von BIM (Building Information Modelling). BIM-Daten sind für den Fassadenbau wichtiger denn je, denn die technischen Möglichkeiten entwickeln sich schnell, und die zu beherrschende Datenmenge im Planungsprozess wächst. Vom Start der Planung eines Gebäudes, über dessen voraussichtliche Sanierungszyklen, bis zu seinem „Lebensende“ und dem Wiedereintritt der im Gebäude gebundenen Rohstoffe in technische Kreisläufe lassen sich Prozesse digital sehr viel umfänglicher, effizienter und transparenter abbilden.
Vor allem für die angestrebte Kreislaufwirtschaft, die schon jetzt fester Bestandteil des Koalitionsvertrages ist. Es wird hoffentlich nicht mehr allzu lange dauern, bis sich dies auch in entsprechenden Gesetzen niederschlägt.“
Einige Kommunen führen schon jetzt den „Building Circularity Passport“ (siehe EPEA) für Neubauten ein. „BIM bietet hier große Chancen, doch damit es funktioniert, müssen die Hersteller von Baustoffen ihre Produkte digital aufbereiten und idealerweise als 2D- und 3D-Modelle bereitstellen“, erläutert Hölscher. Wie wichtig deren digitale Sichtbarkeit ist, machen besonders die derzeitigen Lieferengpässe für zahlreiche Materialien und Produkte deutlich. Auch nachhaltige modulare und serielle Bauweisen werden erst möglich durch die Digitalisierung – Zugang wird künftig nur haben, wer in den Materialauswahlprozessen mit zertifiziert nachhaltigen und kreislauffähigen Produkten digital präsent ist. Und die Digitalisierung bringt zahlreiche Herausforderungen mit sich, weiß Hölscher: „Die Datenmengen dürften rasant wachsen, schnelllebig und zudem noch schwach strukturiert sein – und damit ziemlich ungeeignet für ihre Verwaltung und Bereitstellung in herkömmlichen SQL-Datenbanken, denn diese stoßen bei komplexen Datenbeständen schnell an Grenzen. Stattdessen werden neuere und modernere Datenbanksysteme benötigt, die es erlauben, vernetzte Informationen zu analysieren, die gemeinsamen Knotenpunkte zu finden und nutzbar zu machen.“ Muster erkennende Algorithmen vereinfachen und beschleunigen hier selbst komplexeste Abfragen. Datenbanken dieser Art gibt es bereits, zum Beispiel in den großen Social Networks und Onlineshops, um Nutzerbeziehungen zu erfassen oder das potenzielle Kaufverhalten zu analysieren.
Gebäude als Materialbanken
Am Gelingen der Digitalisierung hängt auch ein weiterer Trend: Gebäude sollen zu „Material-Banken“ werden. Das Gros der Gebäude, die in den 1950er bis 1970er Jahren erstellt wurden, wird am Ende ihres Gebäudelebens immense Mengen recylingfähiger Baumaterialien bieten: Beton, Mauersteine, Stahl, Glas, Holz, Gips, Kunststoffe und vieles mehr.
Der geplante „Abbau“ dieser Ressourcen ist ein wichtiger Schritt zur Klimaneutralität, denn nur rund 50 Prozent der CO2-Emissionen von Neubauten fallen im Betrieb an, die andere Hälfte macht die „Graue Energie“ aus, die bei der Produktion und dem Transport von Baumaterialien anfallen, sowie beim Abriss und der Entsorgung. Die graue Energie und die Lebenszykluskosten sollten darum in einen künftigen digitalen Material- und Gebäudepass einfließen. „Neben den erforderlichen politischen Weichenstellungen ist Digitalisierung auch hier zwingend notwendig, damit Architekten schon in der frühen Planung jedes Gebäudes seinen Abbruch mitdenken“, meint Hölscher. Dies wird künftig auch für Investitionsentscheidungen essentiell: Investoren und Kreditgeber wollen einschätzen können, wie sich der Wert und das Wiederverwendungspotenzial eines Gebäudes über Jahrzehnte entwickeln wird. Alle registrierten Rohstoffe stellen einen bezifferbaren Vermögenswert dar. Für einen deutlich zunehmenden Einsatz von recycelten Baustoffen spricht sich seit langem beispielsweise auch das Institut Bauen und Umwelt (IBU) aus – Datenbanken müssen her, die die Identifikation und Inventarisierung von Ressourcen erlauben, dann können über BIM die digitalen Zwillinge jedes Gebäudes angelegt werden. „Mindestens ebenso wichtig wie das Recyceln von Rohstoffen aus Gebäuden bei deren Abriss ist jedoch das Bauen im Bestand, denn die energetische Sanierung von statisch intakten Altbauten verursacht meist einen erheblich kleineren CO2-Footprint als ein Neubau. Zudem wird weniger neue Fläche versiegelt, wenn nachhaltige, modulare Aufstockungen bestehender Gebäude für die Schaffung neuen Wohnraums umgesetzt werden“, erläutert Hölscher.
Serielles, modulares Bauen
Dies führt uns zu einem weiteren Zukunftstrend: Serielles, modulares Bauen. Hölscher: „Bereits lange im Gespräch, doch leider behandelt die deutsche Baubranche jedes neue Projekt als einen Prototyp. Gefragt ist hingegen eine zunehmende Standardisierung von Bauteilen, wie sie in der Automobilindustrie schon seit vielen Jahrzehnten üblich ist und funktioniert.“
Gäbe es für unterschiedliche Gebäudetypen mehr standardisierte Bauteile, beispielsweise Fenster oder Fassadenbauteile, könnten diese potenziell mehrfach „re-used“ werden oder zumindest von Zeit zu Zeit durch energetisch zeitgemäße Exemplare ersetzt werden. Prozesse wären effizienter und schneller. Gebäude könnten deutlich länger im Einsatz verbleiben. Der Hauptgrund, dass modulares Bauen nur langsam Geschwindigkeit aufnimmt und die Produktivität auf der Stelle tritt, ist – auch hier wieder – die mangelnde Digitalisierung. Hölscher ist überzeugt: „Ohne Digitalisierung keine Standardisierung, ohne Standardisierung keine serielle Fertigung, ohne serielle Fertigung kein nachhaltiger Modulbau.“ Zudem erschwert die in Deutschland über Bundesländer hinweg viel zu hohe Zahl unterschiedlichster Bauvorschriften die Realisierung neuer Konzepte und die Umsetzung nachhaltiger Ideen. Der Abbau von Bürokratie und vereinheitlichte Bauvorschriften ohne kommunale „Extrawürste“ ist darum eine der wichtigsten und größten Herausforderungen. „Es ist doch niemandem mehr verständlich zu erklären, warum in München andere Bauvorschriften gelten als in Berlin oder Barcelona“, so Hölscher.
3D-Druck von Komponenten
Zwei Jahre Pandemie, dann der Ukraine-Krieg – die andauernde Ausnahmesituation wirkt lähmend auf die Bauwirtschaft. Wo das Handwerk schon seit Jahren im Auftragsstau steckt, verstärkt sich nun der Fachkräftemangel noch und die Baupreise steigen durch abreißende Waren- und Rohstoffketten. Immer mehr Auftraggeber setzen darum auf alternative Methoden, um Gebäude oder Komponenten zu fertigen. Besonders interessant, weil ab Losgröße 1 wirtschaftlich und Effizienz pur: 3D-Druck. Auch Hölscher arbeitet bereits mit der Technik: „Gebäude sind häufig in Beton mit vorgesetzter Systemfassade verbaut. Die Fassade stellt dabei die äußerste Schicht eines Gebäudes dar, die vor einem Rohbau mittels sogenannten Fassadenkopplungen befestigt werden. Eine wichtige Aufgabe der Fassadenkopplungen ist der Ausgleich von Toleranzen der zu verknüpfenden Bauteile. Das Vermessen und Justieren der Fassadenkonstruktion in allen drei Raumrichtungen wird aktuell aufwendig per Hand durchgeführt.
Diese aufwendigen Arbeitsschritte verzögern den Baufortschritt erheblich und sorgen für hohe Kosten. Daher war es unser Ziel, eine Verfahrenskette zu entwickeln, mithilfe derer toleranzausgleichende Fassadenbefestigungen individuell hergestellt werden können. Es wurde ein Scanverfahren mit neuartigem Auswerteverfahren entwickelt, mit welchem die Toleranzen in der Gebäudewand erfasst werden können. Daneben wurde eine Planungssoftware entwickelt, welche die Geometrien sowie die Statik der Fassadenbefestigungen auslegt. Diese wurden dann im 3D-Druckverfahren (additives Auftragsschweißen) hergestellt.“ Das neue Scan- und Auswertungsverfahren ermöglicht es dem Fassadenbauer, die Gebäudehülle bis zu einer Genauigkeit von 1 Millimeter zu messen und in ein 3D-Modell zu übertragen. Die entwickelte toleranzausgleichende Fassadenkopplung besitzt eine mehrarmige Struktur und ist für verschiedene Fassadensysteme (z. B. Glasfassaden, Blechfassaden) anwendbar. An die Spitzen der Arme können je nach Fassadensystem über eine Verbindungstechnik Standardanschlüsse für Fassadenpaneele angebracht werden. Durch variierende Längen und Ausrichtungen der Arme werden die Toleranzen der Gebäudehülle ausgeglichen. Durch den Einsatz kann die Montagezeit um mehr als 20 Prozent reduziert werden, da die Kopplungen im Gegensatz zu den herkömmlichen Modellen nicht noch aufwendig auf der Baustelle justiert werden müssen. Hier stehen allerdings auch wieder bestehende Vorschriften und notwendige Zulassungen dem flächendeckenden Einsatz entgegen. Ferner sind die Produktionskapazitäten bzw. die Nachfrage nicht hoch genug, um für die Standardanwendung effiziente und wirtschaftliche Beschaffungspreise zu erzielen.
BIPV in adaptiven Fassaden
Bauwerkintegrierte Photovoltaik (BIPV) ist in der Architektur in Deutschland bislang leider nur eine Ausnahmeerscheinung. Für das Erreichen der Klimaziele und mehr Unabhängigkeit wird die Stromerzeugung über BIPV zu einem möglichen Massenmarkt. „Wenn Architekten bereits in der ersten Planungsphase BIPV konzeptionell einplanen, bietet die Gebäudehülle ein erhebliches Potenzial für die nachhaltige Energieversorgung.
Der CO2-Footprint entsprechend ausgestatteter Gebäude wird gesenkt und nachhaltig Wertschöpfung betrieben. Jede ohnehin anstehende Sanierung und jeder Neubau würde einen wertvollen Beitrag zur Energiewende beitragen und gleichzeitig Einnahmen für die Gebäudebetreiber erzielen – also ein gutes Investorenargument“, ist Hölscher überzeugt. Besonders adaptive Fassaden erscheinen Hölscher interessant: „Der Kopf einer Sonnenblume richtet sich im Laufe des Tages stets am Sonnenstand aus – er wandert mit. Bewegliche BIPV-Module könnten das auch.“ In einem aktuellen Projekt der ETH Zürich setzten Forscher bewegliche Dünnschicht-Solarzellen am House of Natural Resources ein. Hierzu wurden Module auf einem Netz aus Seilen montiert, das vor die Holzfassade des Gebäudes gespannt ist – hier dienen sie der Stromerzeugung und sorgen gleichzeitig für variable Verschattung. Die Solarzellen können manuell gesteuert werden oder der Sonne automatisch folgen, um den Energieeintrag zu maximieren. „Die Entwicklung solcher Systeme zur Marktreife erscheint mir besonders attraktiv, wenn sie variabel bleiben und Planer durch Rasterung, Form und Farbe auch gestalterisch damit spielen können. Durch die Beweglichkeit erhielte die Fassade eine organische, lebendige Ästhetik, die sich im Laufe des Tages stets verändert. Ich bin sicher, hier stehen in den kommenden Jahren spannende Entwicklungen an.“
Spannende Entwicklungen zu diesen und weiteren Trends verfolgen Besucher der glasstec 2022 auch im breit aufgestellten Konferenzprogramm und auf dem Internationalen Architekturkongress der Messe.
27.07.2022, glasstec
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